Bleistifttürme – Wunderarchitektur oder entgleister Kapitalismus
Wer in den letzten Jahren das Architekturgeschehen verfolgte, konnte das Entstehen einer ganz neuen Spezies von Wolkenkratzern beobachten. Die treffliche umgangssprachliche Bezeichnung Bleistifttürme, lässt sofort erahnen worum es sich dabei handelt. Nicht nur hoch, sondern immer schlanker sollten die Granden in den Metropolen der Welt emporragen. Gehört ihnen die Zukunft? Und wie kam es zu dieser Entwicklung? Wir haben uns auf die Suche nach dem Grund für den architektonischen Schlankheitswahn gemacht.
Faszination Wolkenkratzer
Höher und immer höher – monumentale Bauwerke üben seit Menschengedenken eine ganz besondere Faszination aus. Das Empire State Building, einst das höchste Gebäude der Welt, genoss ein Ansehen, das weit über den Höhenrekord hinausreichte. Es entwickelte eine Symbolkraft, in der sich der Stolz einer ganzen Nation bündelte. Es sollte nicht nur den Grad der Entwicklung des Landes anzeigen, sondern stand, sprichwörtlich und im übertragenen Sinn, wie kein anderes für ein Streben gen Himmel, vom Turmbauvorhaben zu Babel vielleicht abgesehen.
Die Anziehungskraft des Höhenstrebens rührte früher zum Beispiel in dem Wunsch, Gott so nahe wie möglich zu sein. Heute geht es vielmehr um die Faszination an der eigenen Schaffenskraft und das Unmögliche möglich zu machen. Wie hoch können wir bauen? Gibt es eine Grenze? Das austesten dieser Grenze hat etwas von der Phantasie, sich über die Grenzen hat des machbar scheinenden hinwegsetzen zu können. Nebenbei stehen diese monumentalen Bauwerke damals wie heute vor allem für Reichtum und Macht. Als Ausdruck dessen benötigen sie über eine Strahlkraft, die sich auch in ihrer aufwendigen Architektur wiederspiegelt. Ein ästhetischer Aha-Effekt ist neben der Höhe die zweite Kür. In den letzten Jahren hat sich jedoch eine neue Disziplin im Gebäudevergleich etabliert: Nicht allein die Höhe zählt, sondern die Relation von Grundfläche zu Höhe.
Bleistifttürme – Wenn nicht (mehr) allein die Höhe zählt
Die meisten neuen Wolkenkratzer entstehen mittlerweile in Dubai und allen voran Asien. Der Grundstein des modernen Wolkenkratzers wurde allerdings in New York gelegt. Gebäude wie das Chrysler Building waren Exempel der Ingenieurskunst und der Art-Deco-Architektur und wurden zu Wahrzeichen der Stadt. Auch der Trend der ultraschlanken Tower nahm hier seinen Anfang. Rund um die 57th Street, passenderweise auch Billionaires Row genannt, schossen in den vergangenen 10 Jahren gleich mehrere dieser vom Schlankheitswahn befallenen Türme in Höhe.
Der irrwitzigste unter den Bleistifttürmen ist der Steinway Tower, kurz 111W57. Der Steinway Tower hat im Gegensatz zu normalen Wolkenkratzern, die in etwa ein Höhe-zu-Grundfläche-Verhältnis von ca. 1:7 aufweisen, ein Verhältnis von 1:24. Er ist nur 18 Meter breit aber 436 Meter hoch. Begründet ist das schlanke Design allerdings nicht etwa in einem ästhetischen Trend oder in einem Statik-Contest, sondern in der Profitabilität. Die Bleistifttürme haben gemessen an ihrer Grundstücksfläche in einer der teuersten Lagen der Welt eine beachtliche Wohnfläche. Gemessen daran gibt es trotzdem relativ wenige Einheiten zum Verkauf. Dementsprechend hoch sind die Kaufpreise. Hier stehen Wohnungen im Bereich der 100 Millionen Euro zum Verkauf. Das macht sie rentabel für die Bauträger.
Warum Bleistifttürme nicht als architektonische Meisterwerke gefeiert werden
Dabei geht es in einer Gegend in der die Adresse als Statussymbol gehandelt wird auch um das Branding der Häuser. Mit einer festen Familienbleibe oder mit Lebensraum hat diese Art des Bauens nur wenig zu tun. Viele der Wohnungen sind Investitionsobjekte und/oder Prestigeobjekte, deren Handel eher dem von Aktien, denn dem traditioneller Immobilien gleicht. Die wahnwitzige Architektur ist Selling Point und Ausdruck eines zumindest in New York entrückten Wohnungskapitalismus.
Das Design der schlanken Supertower steht nicht für etwas Zukunftweisendes. Weder ist ihr Bau besonders nachhaltig, noch bietet ihre Architektur neue Wohn- oder Lebensperspektiven. Die Funktion ihres Designs ist dem Geldfluss untergeordnet, wird von ihm diktiert. Oder etwas polemisch formuliert: Architekt der Bleistifttürme ist ein entgleister Kapitalismus. Wenn Geld Türme zeichnen könnte, sie sähen so aus wie der 111W57. Das heißt allerdings nicht, dass sie nicht trotzdem großartige Bauwerke sind. Türme solchen Durchmessers bei ihrer Höhe stabil zu halten, erfordert ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Und auch ihr Aussehen ist teils atemberaubend. Beispiele für großartige Architektur sind sie dennoch nicht und von humanistischen Einflüssen selbst im Innenraum weit entfernt.
Quellen und weiterführende Links: fuselearning.com, youtube.com, de.abcdef.wiki
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